DIE NEUE ZEIT IST BLAU - K O B A L T B L A I

DIE NEUE ZEIT IST BLAU -  K O B A L T B L A I
DIE NEUE ZEIT IST BLAU - K O B A L T B L A U - die neue Farbe des Herzens - ebenso der neue Klang, G-Dur. Schliessen Sie die Augen und sehen Sie in sich, wenn Sie den Regen auf dem Asphalt aufprallen hören. Kobaltblau wird die Farbe vor Ihrem inneren Auge sein...

Montag, 18. August 2014

Das missbrauchte Kuckuckskind

Von Ulrike Hark. Aktualisiert am 08.06.2011 

Im Leben von Esther T.* ist vieles schiefgelaufen. Missbraucht vom vermeintlichen Vater, erfuhr sie erst mit 25 Jahren, dass ihr leiblicher Vater der langjährige Liebhaber ihrer Mutter war, der oft zu Besuch kam.
Ihre Mutter hat sich in die Lüge hineingelebt: Heute, mit 30 Jahren, ist Esther T. eine Quereinsteigerin ins Leben.
Ihre Mutter hat sich in die Lüge hineingelebt: Heute, mit 30 Jahren, ist Esther T. eine Quereinsteigerin ins Leben.
Bild: Sabina Bobst

Vermeintlicher Vater

Eine Lebenslüge fliegt auf 

Kuckuckskind ist der Begriff für ein Kind, dessen vermeintlicher Vater es im Glauben grosszieht, sein biologischer Erzeuger zu sein. Fachleute gehen davon aus, dass es in der Schweiz zwischen fünf und zehn Prozent solcher Kinder gibt. Allein das Institut für Rechtsmedizin in Zürich, das für den Kanton Zürich und die Innerschweiz zuständig ist, macht pro Jahr rund 250 Vaterschaftsabklärungen. Die Zahl ist seit Jahren stabil. Wie viele Vaterschaftstests in der ganzen Schweiz gemacht werden, ist nicht bekannt, da viele Tests über das Internet laufen. Vor Gericht sind aber nur diejenigen DNA-Analysen anerkannt, die in Anwesenheiteines Arztes durchgeführt wurden. 

Kommt der Verdacht auf, dass eine Scheinvaterschaft besteht, müssen nach dem Gesetz alle Beteiligten mit einem Test einverstanden sein, heimliche DNA-Tests sind verboten. Wenn das Kind urteilsfähig ist (ab etwa 14 Jahren), kann es den Test selber bestimmen. Die neue Situation hat weitreichende Konsequenzen: Der getäuschte Vater muss keine Alimente mehr zahlen und das Kind ist durch den leiblichen Vater erbberechtigt. Dass der vermeintliche Vater beim biologischen Erzeuger Schadensansprüche geltend macht für gezahlte Leistungen, ist gemäss Auskunft des Bundesamtes für Justiz aus der Schweiz nicht bekannt. (uh)

Selbsthilfegruppe

Esther T. möchte eine Selbsthilfegruppe für Kuckuckskinder gründen. Interessierte können sich beim Selbsthilfezentrum Winterthur melden, Tel. 052 213 80 60. info@selbst-hilfe.ch.

Links

Korrektur-Hinweis

Melden Sie uns sachliche oder formale Fehler.
Sie war in der Klinik, als sie es erfuhr – an einem Ort, wo sie eigentlich gesund werden sollte. Damals, vor fünf Jahren, war sie eingeliefert worden: Depressionen, Wahrnehmungsverschiebungen, Suizidgefahr. Der vorläufige Endpunkt aller Probleme, welche die 25-Jährige schon während der Pubertät gequält hatten. Esther T. fühlte sich minderwertig, überflüssig. Sie hatte Bulimie und Anorexie, ritzte sich selber. Sie erinnert sich noch genau, was sie an diesem Tiefpunkt in der Klinik zu ihrer Mutter sagte: «Ich habe alle schlechten Gene von meinem Vater.» Worauf ihre Mutter antwortete: «Was würdest du davon halten, wenn er gar nicht dein Vater wäre?»
Esther T. erzählt die Schlüsselstelle ihres Lebens im Büro eines Selbsthilfezentrums im Kanton Zürich. Sie möchte ihre Geschichte öffentlich machen, eine Selbsthilfegruppe gründen. «Ich will andere Betroffene fragen, wie verarbeitet ihr den Verrat? Wie könnt ihr nach vorn schauen? Wie könnt ihr vergeben?» Wenn der Artikel schon nur eine Mutter zur Wahrheit bewegen könne! Dass man über Jahre hinweg getäuscht wurde – von der Mutter und vom leiblichen Vater – sei unerträglich. Esther T. redet in aller Ruhe, so als stünde sie bereits über der Sache. Eine feminin wirkende, blonde Frau von 30 Jahren. Sie hat ein liebes Gesicht, und wenn sie mit ihrer warmen Stimme redet, scheint es fast, als würden die Vokale lächeln. Man merkt, sie möchte es recht machen, keinen Widerspruch auslösen.
Missbraucht und verraten
Schon früh musste sie lernen zu schweigen. Der Mann, von dem sie meinte, er sei ihr Vater, war gewalttätig und Alkoholiker. Kein Versager, nein – «Firmenbesitzer und mehrfacher Millionär», wie sie betont. Er habe sie immer wieder missbraucht, ihr mit der Schrotflinte gedroht, sollte sie das Geheimnis der Mutter verraten. «Am schlimmsten empfand ich aber seine Gewalt an meiner Mutter, wenn ich sie schreien hörte», sagt Esther T. Als sie fünf Jahre alt war, kam es zur Kampfscheidung, und die Mutter erhielt das Sorgerecht. Der Mann ging später nach England und verstarb dort.
«Meine Mutter hat nie begriffen, dass es wichtig für mich gewesen wäre, meinen leiblichen Vater früher kennen zu lernen und zu wissen, dass dieser Gewaltmensch eigentlich ein Fremder war. Ich hätte mich so vom Missbrauch klarer abgrenzen können. Das verstehen Sie doch?», fragt sie und schaut einem dabei fast bittend in die Augen. Das Tragische oder Absurde an der Geschichte ist, dass Esther T. ihren leiblichen Vater von klein auf kannte, aber nicht wusste, dass er ihr Erzeuger war. «Vater 2», wie sie ihn nennt, blieb noch während 13 Jahren nach ihrer Geburt der Geliebte ihrer Mutter, war aber verheiratet und hatte mehrere Kinder. Was ihn nicht davon abhielt, seine heimliche Familie täglich zu besuchen und während Jahren mit ihr in die Ferien zu fahren. Seiner Frau gegenüber erklärte er seine Absenzen mit beruflicher Weiterbildung.
Die heimliche Familie
«Rückblickend muss ich sagen, er hat auch seine Frau nach Strich und Faden belogen, aber damals habe ich unsere gemeinsame Zeit sehr genossen», sagt Esther T. «Ich habe ihn sehr gemocht.» Die Sache flog auf, als sie 13 Jahre alt war. Es war sozusagen ein Klassiker: Die Reisepapiere mit den Namen von allen dreien wurden fälschlicherweise an seine private Adresse geschickt. Daraufhin kam es zum Bruch mit der heimlichen Familie.
Mit 20 Jahren traf Esther T. ihn erstmals wieder, «es war in der Migros, nie werde ich vergessen, wie ich zu ihm gesagt habe, du bist immer wie ein Vater zu mir gewesen.» Vielleicht habe sie es damals geahnt, meint sie nachdenklich. Beruflich kam er aus dem pädagogischen Bereich, mehr möchte sie dazu aus Anonymitätsgründen nicht sagen. Sie könne einfach nicht verstehen, wie jemand, der die Psyche von Kindern kenne, sich jahrelang so verleugnen könne. «Als mich meine Mutter ausfragen wollte, war er damit einverstanden; aber nur unter der Bedingung, dass es niemals jemand erfahren dürfe, aus Rücksicht auf seine Familie.»Ihre Mutter habe sich in diese Lüge hineingelebt, sie habe ihren Schwur nie gebrochen. «Bis zu dem Zeitpunkt, als sie mich mit meiner Psychose in der Klinik nicht mehr erkannte. Da merkte sie, dass es ihre letzte Chance war, mich wieder ins Leben zu holen. Mein Körper hat immer gewusst, dass etwas nicht stimmt, aber ich konnte es mir nicht erklären.»
Loyalitätskonflikt
Wenig später wurde ein Vaterschaftstest gemacht – und der war eindeutig. Es war, als sei der wichtigste Stein in einem grossen, chaotischen Puzzle gefunden.Gab es in all den Jahren kein Anzeichen, dass sie die Tochter dieses Mannes war? Hat nie jemand versehentlich eine Andeutung gemacht? Doch, da habe es schon etwas gegeben. Zum Beispiel habe ihr erster Vater gefragt: «Von wem hast du eigentlich so grusige Wädli?» Esther T. zieht den Jupe ein wenig höher und meint: «Ich habe nun mal diese stämmigen Sennenwädli – dieselben wie mein richtiger Vater». Das tönt heute wie eine lustige Anekdote, aber damals als Kind habe sie das schwer getroffen: «Ich dachte, ich sei nichts wert.» Umso mehr war sie erleichtert, als sie vor fünf Jahren Kenntnis über ihre wahren Wurzeln erhielt. «Ich hätte dich so gebraucht», habe sie ihrem leiblichen Vater am Telefon später gesagt.
Doch der nächste Dämpfer kam sofort, denn der Vater meinte nur: «Gib erst mal deiner Mutter die Schuld, dass es dich überhaupt gibt.» Dennoch, meint sie, sie sei ein Kind der Liebe, «sonst hätte das Verhältnis ja nicht 16 Jahre gehalten.» Hier merkt man die Ambivalenz, den Loyalitätskonflikt, in dem sie seit ihrer Kindheit steckt. Kann sie der Mutter vergeben? «Ich versuche es, denn sie ist meine wichtigste Bezugsperson, sie ist die einzige Konstante. Aber manchmal bin ich auch bitter.» All die Jahre des Vertrauensmissbrauchs, der Verlogenheit, die sie in Gedanken neu schreiben müsse! «Manchmal denke ich, ich war mein Leben lang nur von Egoisten umgeben.»
Endlich auf eigenen Füssen
Der Kontakt zum heute über 80-jährigen Vater sei schwierig, sie wolle mehr von ihm, als er bereit sei zu geben: «Er meint immer noch, ich hätte ein Problem, nicht er.» Dabei wünschte sie sich so sehr, dass er seine Vaterschaft auch juristisch anerkenne, aber sie hat wenig Hoffnung. «Ich möchte das nicht wegen seines Erbes, das Geld ist mir egal», sagt sie. «Ich möchte es für mich, möchte endlich, dass er zu mir steht.» Esther T. möchte geliebt werden.
Ein Psychologe hilft, mit dem Konflikt umzugehen. Seit einiger Zeit hat sie eine eigene Wohnung, auch beruflich sieht es gut aus. Sie hat eine feste Stelle, «auf dem freien Arbeitsmarkt», betont sie, «endlich bin ich etwas wert.» Nur mit Männern tut sie sich schwer. Doch sollte sie einmal ein Kind haben, dann wüsste sie schon, was zuvorderst ins Fotoalbum käme. Sie lächelt, aber es ist ihr ernst: «Ich würde den erbrachten Vaterschaftstest, die DNA-Analyse, hineinkleben. Damit das Kind nie zweifeln muss. 
Erfahren Sie mehr dazu in der BERNER ZEITUNG

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen